von Martin Dudenhöffer, 05.10.2024, Kreiszeitung Böblinger Bote
Rassistische Lieder grölende Schüler oder ein auf einer Schulbank eingeritztes Hakenkreuz – menschenfeindliches Denken ist auch bei jungen Menschen im Kreis Böblingen verbreitet. Im Oktober startet bei Mercedes-Benz der Pilotversuch eines Demokratievereins, Rechtsextremismus entgegenzuwirken.
Diese Szene erinnert an Sylt 2024: Eine große Gruppe Jugendlicher grölt auf einer Feier im Kreis Böblingen zum Partysong „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino die mittlerweile bekannten rassistischen Parolen. Oder: ein jüdischer Schüler einer Schule, ebenfalls im Kreis Böblingen, entdeckt auf seinem Tisch im Klassenzimmer ein eingeritztes Hakenkreuz mit der Aufforderung „Stirb!“. Das sind nur zwei Beispiele für eine Entwicklung, die bundesweit zu beobachten ist: Rechtsradikale Parolen sind auch in den Köpfen junger Menschen tief eingedrungen. Und: Die Hemmschwelle, diese Inhalte auch nach außen zu vertreten, ist gesunken.
Doch woran liegt es, dass die jungen Menschen, die gemeinhin als progressiv gelten, eine der stärksten Wählergruppen der AfD sind? Mathieu Coquelin ist Geschäftsführer bei der Fachstelle Extremismusdistanzierung (FEX) in Sindelfingen. Als Sozialarbeiter war er sieben Jahre lang in der Jugendarbeit in Böblingen aktiv, kennt die Gedankenwelt von Jugendlichen gut. „Die Wahlerfolge der AfD, die Präsenz extremer Inhalte auf Social Media und die Verschiebung des Diskurses nach rechts sind Faktoren. Das Schmuddelimage und den Ekel, mit dem viele rechtsradikale Kräfte verbunden haben, gehören der Vergangenheit an“, erklärt Coquelin.
Präventionsangebot für Mercedes-Azubis
FEX engagiert sich in Schulen, in der Jugendarbeit oder in Geflüchtetenunterkünften, um über die Gefahren von Extremismus zu sprechen. Bald wird beim größten Arbeitgeber Sindelfingens, Mercedes-Benz, ein Pilotprojekt durchgeführt. Dabei sollen Auszubildende in den Fokus genommen werden. Denn auch diese gehören mehr und mehr zum AfD-Wählerklientel. Beispiele, dass radikale Positionen bei jungen Menschen auch im Kreis zu beobachten sind, gebe es genügend, so Coquelin: „Wir verzeichnen eine quantitative und qualitative Zunahme von rechtsextremistischen Vorfällen.“ Neben dem Singen des Partyklassikers „L’amour toujours“ mit umgedichteten Textzeilen und der Hakenkreuzdrohung weiß FEX auch von NS-verharmlosenden Bildern in Gruppenchats oder klassischem Mobbing von Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln.
Ob ein junger Mensch seine rechtsradikale Neigung zeigt, hänge von verschiedenen Faktoren ab. Wissenschaftlicher Beobachtung nach gibt es Jugendliche mit autoritärer Persönlichkeitsstruktur, die durch die einschneidende Pandemie mit Schulschließungen und Kontaktsperren noch unversöhnlicher wurde. „Wer diese Entbehrung erlebt hat, in dysfunktionalen Familien groß wird, neigt eher dazu, eine autoritäre Partei, die hartes Durchgreifen befürwortet, zu unterstützen“, erläutert der Sozialpädagoge. Ein weiteres Erklärungsmuster, das auch auf wirtschaftlich gut gestellte Menschen zutrifft, lautet: „Wenn das Gefühl herrscht, jemand nimmt mir vermeintlich etwas weg – sei es mein Auto, mein Essen, meine nationale oder die Geschlechteridentität – löst dies Reaktanz aus.“ Diese mündet immer öfter in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.
Jugend zeigt sich deutlich politisierter
Ebenfalls nah an der Lebenswelt der Jugendlichen ist die Sozialarbeit des Waldhauses. Michael Groh, zuständig für die kommunale Jugendarbeit, sagt: „Wir beobachten schon eine Politisierung. Gerade emotional aufgeladene Themen wie der Israel-Palästina-Krieg oder Migration beschäftigen Jugendliche.“ Das bedeute zwar nicht, dass automatisch extrem gesprochen werde, einen Rechtsdrall bei Äußerungen kann auch der erfahrene Sozialpädagoge bestätigen: „Wir hören durch unsere Schulsozialarbeiter, dass rassistische oder homophobe Sprache zum Alltag gehören.“ Dennoch, so Groh, sei nicht alles negativ zu bewerten: „Ich möchte auch eine Lanze brechen für Jugendliche. Diese sind nämlich Suchende, die sich in einer dynamischen und druckvollen Welt zurechtfinden müssen. Das Bild der bösen Jugendlichen lässt sich nur zurückweisen.“
Wie stark die Umwelt, in der die junge Generation heute aufwächst, auch das Denken beeinflussen, erklärt Michael Groh: „In der Pandemie sind viele Familien an die Grenzen gekommen. Jugendliche hatten eine höhere Mediennutzung. Außerdem fanden weniger Treffen statt, was wiederum die sozialen Kompetenzen wie Konfliktlösung stark beeinträchtigte.“ Wie bei vielen erwachsenen Wählern litten auch Jugendliche unter diffusen Ängste, die durch Krisen wie Corona, Klima, Inflation oder Kriege verstärkt würden. „Dann verfangen einfache Lösungen oder Schuldzuweisungen der Heckenschützen im Netz, wie ich sie gerne nenne, schneller. Die Verunsicherung, wie die eigene Zukunft sein wird, spielt ebenfalls hinein“, so Groh.
Rechtsradikale auf Tik-Tok mit Erfolg
Wer in den sozialen Medien die hippen Accounts Rechtsradikaler sieht oder die politische Debatte verfolgt, der dürfte sich weniger wundern, dass dies auch auf junge Menschen abfärbt. Immer wieder genannt als ein Brandbeschleuniger solcher Tendenzen wird Tik-Tok. „Akteure wie die AfD erreichen dort seit Jahren schon Millionen. Davon sind die anderen meilenweit entfernt“, betont Mathieu Coquelin. Während Bundeskanzler Scholz dort ein Bild seiner Aktentasche poste, adressierten Rechtsextreme bewusst junge Menschen auf der populistisch-emotionalen Schiene – mit Erfolg, wie Coquelin erzählt: „Wir haben schon Politiker der demokratischen Parteien und der AfD zu Podiumsdiskussionen eingeladen. Danach machten die Schüler Fotos mit dem AfD-ler, als wäre er ein Star. Da fällt einem die Kinnlade herunter.“
Der Extremismus-Experte aus Sindelfingen plädiert daher für eine stärkere Präsenz der demokratischen Kräfte im digitalen und analogen Raum. Auch müssten Strukturen wie die Sozialarbeit in Jugendzentren, in Schulen oder auf der Straße ausgebaut werden. „Wir müssen mit Jüngeren ins Gespräch kommen. Fast alle sind nämlich zugänglich“, sagt Coquelin. Mithilfe von Präventionsveranstaltungen, wie FEX wie anbietet, oder auch die Landeszentrale für Politische Bildung, könnte ebenfalls etwas erreicht werden. Im Netz dagegen sieht Coquelin Grenzen: „Die schiere Masse und der extreme Inhalte fördernde Algorithmus lassen sich dadurch nicht stoppen. Ich vergleiche das immer mit dem Monopoly-Spiel: Wir Demokraten haben nur einen Würfel, die neue Rechte aber hat zwei. Sie ist also immer schneller. Hier braucht es staatliches Eingreifen.“
211 Fälle von Diskriminierung seit 2018
Meldepflicht
Das Kultusministerium erhebt seit 2018 Daten über Diskriminierungen religiöser, ethnischer und antisemitischer Art. Mittlerweile werden auch die geschlechtliche und sexuelle Identität betreffende Diskriminierungen erfasst. Schulen melden dabei immer an die Schulaufsichtsbehörde wie das Oberschulamt oder das Regierungspräsidium (Gymnasien).
Vorfälle
Seitdem wurden landesweit 211 Vorfälle gemeldet. Die meisten von ihnen haben antisemitische Hintergründe.
Maßnahmen
Schulen können sich an einem Demokratiebildung-Leitfaden orientieren, der verschiedene Konzepte bietet. Außerdem gibt es Workshops und Präventionskurse zur allgemeinen Bekämpfung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.